Wer hat Angst vor … Digitalisierung?
- Christiane Krieger-Boden
- 27. Dez. 2018
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Jan. 2021
Es geht ein neues Gespenst um: Digitalisierung! Die Robotermaschinen der Industrie 4.0 werden direkt miteinander sprechen und ihre Arbeitsprozesse selbsttätig organisieren, von der Zulieferung der Vorprodukte über die Fertigung und Montage bis zur Auslieferung und der dafür erforderlichen Logistik – sie brauchen keine Menschen mehr! Bereits jetzt spricht man von der großen Entkoppelung (the great decoupling), weil Produktivitätsgewinne nicht mehr in zusätzliche Beschäftigung und höhere Lohneinkommen umgesetzt werden. 47% aller Berufe werden verloren gehen, so haben es US-Wissenschaftler berechnet (Frey, Osborne 2017). Eine hohe Wahrscheinlichkeit, durch Digitalisierung wegzufallen, haben Berufe in der Produktion und im Transportwesen, viele einfache Dienstleistungsberufe, Handelsberufe und Büro- und Verwaltungsberufe (alles Berufe mit hohen Beschäftigtenzahlen; siehe rechts in der Grafik). Gering ist diese Gefahr für Managementberufe, für IT-Berufe, für Erziehungs- und Gesundheits-/Pflegeberufe (linke Seite der Grafik).
Aber der Grusel geht noch weiter: Selbstlernende Algorithmen entwickeln künstliche Intelligenz, die unsere menschliche immer mehr zu übertreffen droht. Eigentlich sind Algorithmen nur Anweisungen für Prozesse, mit denen bestimmte Probleme gelöst werden sollen – wie Kochrezepte. Doch computerbasierte Algorithmen, die angewiesen wurden, sich durch Rückgriffe auf die Datenflut des Internets (Big Data) selbst weiter zu entwickeln, beantworten bereits jetzt unsere Anfragen auf Hotlines, sie übersetzen zwischen Sprachen, sie werden Texte für uns schreiben (z.B. Konjunkturprognosen), sie werden Produkte und Prozesse entwerfen, sie werden uns verwalten. Für die Schnelligkeit solcher Entwicklung gilt als Faustregel Moore’s Law, wonach sich die digitale Leistungsfähigkeit alle 12 Monate verdoppelt. Solch exponentielles Wachstum nimmt sich zunächst unspektakulär aus, wie in der Geschichte vom Erfinder des Schachs, der sich als Lohn dafür von seinem König ein Reiskorn auf dem ersten Schachfeld erbat – und jeweils eine Verdoppelung der Körner auf jedem der nächsten 32 Felder. Sein Herrscher musste bald feststellen, dass spätestens bei Erreichen der zweiten Hälfte des Schachbretts die Schätze seines Landes nicht mehr zur Bezahlung ausreichten.
Und was wäre, argumentieren Digitalisierungs-Experten (z.B. Brynjolfsson, McAfee 2011), wenn wir uns bei der Digitalisierung bereits zunehmend auf der zweiten Hälfte des Schachbretts bewegen würden? Bislang hat die Digitalisierung uns nützliche Erleichterungen bei unserer Arbeit und ungeahntes Amüsement für unsere Freizeit beschert, doch nun geht es weiter mit selbstfahrenden Autos und mit Computerprogrammen, die den weltbesten menschlichen Go-Spieler besiegen. Die Welt wird sich vollständig verändern, so heißt es, sobald die technologische Singularität erreicht ist, d.h. sobald sich Algorithmen mittels künstlicher Intelligenz so schnell selbst verbessern, dass der Mensch nicht mehr mitkommt. Wann dieser Zustand kommen wird, ist ungewiss, doch könnte er sehr bald und dann plötzlich und überraschend eintreten (Kurzweil 2006). Die Singularität könnte dann die Herrschaft der Maschinen und Algorithmen über die Menschen besiegeln – und über die Bedürfnisse der Menschen könnten diese neuen Weltherrscher dann so achtlos hinweggehen, wie wir über die von Insekten.
Detailliert leitet Harari (2017) solche Entwicklung aus der bisherigen Geschichte der Menschheit ab, die er als Erfolgsgeschichte eines zunehmenden Kontrollgewinns sieht (soweit in Übereinstimmung beispielsweise mit Steven Pinker und Hans Rosling): die Menschheit habe es geschafft, Krankheit, Hunger und Krieg (im Prinzip) zu beherrschen und zurückzudrängen. Aber das, meint Harari, wird uns nicht genügen, nun wird im Streben nach Glück das nächste Projekt angegangen: körperliche und mentale Defekte und Unvollkommenheiten, ja den Tod selbst, zu überwinden. Von Homo Sapiens zu Homo Deus, der Mensch optimiert sich selbst, durch Cyborg-Ersatz- und Verbesserungsteile, durch Genmanipulationen (Genschere CRISPR-Cas), durch Nano-Roboter zur Reparatur von Schäden im Körper, durch Designer-Drogen, und er erweitert seine Möglichkeiten durch Automatisierung. Eine Bremse für diese Entwicklung ist nicht in Sicht.

Doch damit begibt sich der Mensch zunehmend in die Abhängigkeit von seinen digitalen Helfern: Entscheidungen werden an Algorithmen delegiert, ob bei der autonomen Navigation im Verkehr, beim Hochfrequenzhandel an den Börsen (siehe unten) oder beim Drohnenkrieg. Und die Algorithmen vermögen solche Entscheidungen ja auch viel besser zu treffen; sie können viel mehr der dafür erforderlichen Informationen beschaffen und sie viel schneller und genauer verarbeiten.
Algorithmen kennen sogar uns besser als wir uns selbst. Damit werden „liberale Gewohnheiten wie Wahlen obsolet, denn Google wird in der Lage sein, sogar meine Überzeugungen besser zu repräsentieren“ (Harari). Zumal die beschränkten Informationen, die der Mensch überhaupt zu verarbeiten in der Lage ist, wiederum durch Algorithmen zur Verfügung gestellt werden, priorisiert durch ein schwer zu durchschauendes Page-Rank-Verfahren. Und weil die durch Algorithmen selbst erschaffene künstliche Superintelligenz bald feststellen wird, dass die Entscheidungen der Menschen fehlerhaft sind, wird sie diese im Interesse einer Optimierung der Situation durch die eigenen, besser fundierten ersetzen … Aussteigen aus dem fahrenden Zug der Digitalisierung? Kaum möglich, denn das würde den sozialen Tod in der „Klasse der Nutzlosen“ oder den physischen Tod aufgrund fehlender Updates der körpereigenen Roboter bedeuten.
Eine schlimme Zukunft – wirklich?
Die Angst vor der Zukunft und vor neuen Techniken, die menschliche Arbeit überflüssig macht, hat eine lange Tradition in der Geschichte, man denke an die Maschinenstürmer („Luddites“) im frühen 19. Jh., die gegen Webmaschinen vorgingen, weil sie ihnen ihre Arbeitsplätze am heimischen Webrahmen nahmen. Doch in aller Regel wurden Chancen unterschätzt, während sich die Risiken als überzeichnet herausgestellt haben.
Das gilt besonders für eine zukünftige Herrschaft der Maschinen über die Menschen. Sicher, wenn man überzeugt ist, dass das menschliche Gehirn dem Modell eines Algorithmus entspricht – was laut Harari das gegenwärtig in den Biowissenschaften verbreitete Modell ist – dann werden die Computer mit ihrer überlegenen Rechenleistung solch Gehirn bereits jetzt oder sehr bald übertreffen Aber vielleicht ist das Algorithmus-Modell für das Gehirn schlicht falsch. In solchem Modell ist nämlich für Geist und Bewusstsein kein Platz. Aber das Erleben von – aus Algorithmus-Sicht – so überflüssigen Emotionen wie Angst, Schmerz, Freude und auch von Bewusstsein ist unleugbar. Beste (Nicht-)Erklärung der Wissenschaft dazu sei, es handele sich um eine funktionslose Begleiterscheinung beim Feuern komplexer neuronaler Netze, eine Art „mentaler Luftverschmutzung“. Auch Kreativität und Intuition ist mit dem Algorithmus-Modell kaum erklärbar – selbst, wenn es inzwischen Computerprogramme gibt, die ganz brauchbar im Stil von Mozart, Schönberg, den Beatles oder einer Punk-Gruppe komponieren können, ganz nach Wunsch. Nach Walsh (2018) stehen die meisten echten KI-Experten dem Gedanken an die Singularität sehr skeptisch gegenüber und sehen viele technische Faktoren, die einer Singularität entgegenstehen. Selbst Moores’s Law scheint nicht länger zu gelten.
Auch Empathie ist Algorithmen fremd, sei es in der Form von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft, oder in der Form von Neid, Gier und Herrschsucht. Und damit gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dass Computer die Menschheit beherrschen werden – dafür bräuchten sie einen eigenen Willen, und den Wunsch, sich zu anderen in Beziehung zu setzen. „Es wird nicht so sein, dass AlphaGo morgen erwacht und beschließt, … die Welt zu übernehmen. Das ist nicht in seinem Code. Das einzige, was AlphaGo jemals tun wird, ist, eine Zahl maximieren – und zwar die Bewertung der Wahrscheinlichkeit, dass es die aktuelle Go-Partie gewinnen wird. Es weiß ja noch nicht einmal, dass es Go spielt“ (Walsh 2018). Ich bin überzeugt, dass lebende Gehirne – nicht nur menschliche – weit komplexer sind, als wir bis heute verstehen können, und ich glaube deshalb nicht daran, dass künstliche Intelligenz schon bald in der Lage sein wird, die menschliche zu überflügeln. Allerdings könnten sich einige Menschen die Fähigkeiten der Maschinen zu eigen machen, um andere damit zu beherrschen – was nun allerdings auch nichts Neues ist.
Bleibt die Sache mit den wegfallenden Arbeitsplätzen. Auch das ist nicht neu. Seit dem II. Weltkrieg bis heute hat es beispielsweise erheblichen arbeitssparenden technischen Fortschritt gegeben – ohne dramatisch steigende Arbeitslosigkeit; und auch der Vormarsch der Industrieroboter in der Fließbandfertigung in den letzten 30 - 40 Jahren hat mit der Produktivität vor allem die Einkommen erhöht. Natürlich hat sich die Arbeitswelt verändert – und das wird auch in Zukunft so sein. Aber die Digitalisierung wird nicht nur Gewohntes vernichten, sondern durch Produktivitäts- und damit Einkommenssteigerungen neue Möglichkeiten bieten. Die Nachfrage nach menschlichen Fähigkeiten, die komplementär zu den digitalen sind, werden steigen (Autor 2015): Im Produktionsprozess werden sich einige bestehende Berufe in der Zusammenarbeit mit Robotern verändern. Produkte oder Dienstleistungen, bei denen der Einsatz von Computern oder Robotern nicht möglich ist, werden zunehmend oder neu nachgefragt werden, und sie werden dazu führen, dass bestimmte Berufe zunehmen oder neu entstehen. Die durch Digitalisierung erzielten Produktivitätssteigerungen könnten nebenbei auch noch die Probleme einer alternden Bevölkerung lösen oder zumindest lindern, in dem sie den Rückgang der Erwerbsbevölkerung kompensieren (Acemoglu, Restrepo 2018).
Freilich muss die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Es ist nicht selbstverständlich, dass der Nutzen der neuen Techniken und die erzielbaren Produktivitäts- und Einkommensgewinne allen Menschen gleichermaßen zugutekommen werden. Gewiss wird man mehr Bildung brauchen, man sollte digitale Kompetenzen und lebenslanges Lernen fördern. Man wird manche Berufe, gerade im Dienstleistungsgewerbe, mehr wertschätzen und besser bezahlen müssen (wie Pflege- und Erziehungsberufe, persönliche Dienstleistungen). Ob man außerdem mehr Umverteilung inklusive eines bedingungslosen Grundeinkommens braucht (von dem ich jenseits eines garantierten absoluten Existenzminimums nicht allzu viel halte), ob man „Roboterbesitz in Arbeitnehmerhand“ fördern muss oder eine Maschinensteuer erheben soll (was die Innovations- und Investitionsfreude und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ausländischen Standorten beeinträchtigen könnte) – das alles müsste sorgfältig erwogen werden. Soziales Engineering wird da mehr denn je gefragt sein.
Literatur:
Acemoglu, Daron, und Restrepo, Pascual (2018) Demographics and Automation. NBER Working Paper No. w24421. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3138621
Autor, David (2015). Why Are There Still So Many Jobs? The History and Future of Workplace Automation. Journal of Economic Perspectives, 29 (3): 3–30. https://economics.mit.edu/files/11563
Brynjolfsson, Erik, und McAfee, Andrew (2011). Race Against the Machine: How the Digital Revolution is Accelerating Innovation, Driving Productivity, and Irreversibly Transforming Employment and the Economy. Digital Frontier Press.
Frey, Carl Benedikt, und Osborne, Michael A. (2017). The future of employment: How susceptible are jobs to computerisation? Technological Forecasting and Social Change, 114 (C): 254-280. https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf
Harari, Yuval Noah (2017). Homo Deus: Eine kurze Geschichte von Morgen. C.H.Beck. München.
Kurzweil, Ray (2006). The Singularity is Near. Penguin Books.
Walsh Toby (2018). Elon Musk hat Unrecht: Die KI-Singularität wird uns nicht alle umbringen. Elektronik-Praxis-Blog. https://www.elektronikpraxis.vogel.de/elon-musk-hat-unrecht-die-ki-singularitaet-wird-uns-nicht-alle-umbringen-a-733977/
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