Wachstum
- Christiane Krieger-Boden

- 19. Dez. 2021
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. März 2022

Mein Drachenbaum wächst! Ein kleiner neuer Trieb kommt unten, nahe den Wurzeln, aus dem Stamm heraus. Zunächst war er so klein, dass ich meinen Augen kaum traute; inzwischen wächst er tagtäglich so kräftig, dass man ihm beinahe dabei zusehen kann. Aber wozu das Ganze? Immerhin ist der Drachenbaum mindestens 2 m hoch und hat bereits mehrere gesunde kräftige Stämme. Wie überflüssig solches Wachstum also! Und wie schön!
Wenn es um Wachstum in der Wirtschaft geht, sind viele Menschen skeptisch. Die Wirtschaft kann doch nicht immer weiterwachsen! Wo soll sie denn noch hinwachsen! Die Erde und ihre Ressourcen sind endlich, da muss das Wachstum doch auch endlich sein! Wenn es irgendwo Wachstum gibt, muss also doch irgendwo anders etwas fehlen – wenn die einen vom Wachstum profitieren, müssen andere doch wohl die Zeche zahlen!
Das Problem ist, dass „Wachstum“ nicht verstanden wird. Es handelt sich eben nicht einfach darum, immer mehr Güter anzuhäufen – es geht letztlich auch in der Wirtschaft um den ewigen Kreislauf des Entstehens und Vergehens. Ressourcen verschwinden nicht, sie werden verwandelt und können in anderem Kontext wieder verwendet werden. Und: es geht nicht um Nullsummenspiele, wo der eine nur gewinnen kann, was der andere verliert, sondern die Erfindung von Neuem schafft neue Spielräume – wie bei der Evolution in der Natur.
Etwas „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“
Wachstum wird bei den Ökonomen gemessen als die Veränderung des „Bruttoinlandsproduktes“. Aber was ist das eigentlich, und wie unterscheidet es sich vom „Bruttosozialprodukt“ oder vom „Volkseinkommen“, mit denen ebenfalls oft hantiert wird?

Die voranstehende Graphik soll die Zusammenhänge verdeutlichen. Vorausgeschickt sei, dass die verschiedenen Größen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), mit der das Wachstum ermittelt wird, in drei verschiedenen Konzepten gemessen und analysiert werden:[1]
Inlands- versus Inländerkonzept: bezogen auf das was im Inland versus von Inländern produziert wird[2],
Brutto- versus Nettokonzept: unterscheidet sich um die Abschreibungen,
Zu Marktpreisen oder Faktorkosten: bezieht sich auf das Einwirken des Staates auf Preise durch indirekte Steuern, also Umsatz- und Verbrauchssteuern, und durch Subventionen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird ermittelt aus den Umsätzen an Gütern und Dienstleistungen, die die Unternehmen dem Statistischen Bundesamt melden. Dazu kommen von Unternehmen selbst erstellte Produktionsanlagen und Lagerbestandsveränderungen. Auch staatliche Dienstleistungen, ob von Lehrern, Polizisten, Krankenschwestern, Busfahrern, Müllleuten, Politikern oder Behördenangestellten, die sich nicht direkt monetär messen lassen, werden über Hilfskonstruktionen berücksichtigt. Abgezogen werden die Vorleistungen, Güter und Dienstleistungen, die die Unternehmen jeweils von anderen Unternehmen bezogen haben – sonst gäbe es ja Doppelzählungen. Das Bruttoinlandsprodukt – zu Marktpreisen – ist damit die Summe aller im Inland erzeugten Wertschöpfung. Es ist ein Indikator der volkswirtschaftlichen Leistungskraft des Landes. Dem entsprechen auf der Verwendungsseite die Ausgaben für privaten und staatlichen Konsum, private und staatliche Investitionen, sowie für die Exporte abzüglich der Importe.
Das Bruttosozialprodukt entspricht dagegen dem Inländerkonzept; es wird berechnet, indem zum BIP die Einkünfte hinzugerechnet werden, die Inländer aus dem Ausland bezogen haben, und die Einkünfte abgezogen werden, die Ausländer im Inland erzielt haben. Es bildet also die Leistung der Inländer ab.
Das Volkseinkommen (zu Faktorkosten) schließlich ist das verteilbare Einkommen, das übrigbleibt, nachdem zunächst der Wertverlust durch Abschreibungen abgezogen worden ist – es handelt sich um Abschreibungen auf Produktionsanlagen in Unternehmen. Außerdem müssen die vom Staat eingezogenen indirekten Steuern abgezogen und die vom Staat gewährten Subventionen hinzugefügt werden. Dieses Volkseinkommen verteilt sich auf die Entgelte für die Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital, also Lohneinkommen, Bodenrenten und Pachten, Kapitaleinkünfte und Zinsen, Gewinne. Nachrichtlich, nicht in der Graphik enthalten: Das den privaten Wirtschaftsakteuren verfügbare Einkommen ergibt sich, wenn man vom Volkseinkommen Lohn-, Einkommens- und Kapitalsteuern abzieht und Sozialtransfers hinzuzählt.
Entstehen und Vergehen
Das erste Missverständnis hinsichtlich des Wachstums besteht in der Annahme, dass es dabei um die Anhäufung von Beständen, von immer mehr Gütern ginge. Aber das Bruttoinlandsprodukt und seine Verwandten sind keine Bestands- sondern Stromgrößen – und dementsprechend beziehen sich auch ihre Veränderungen auf die Mächtigkeit der Ströme, nicht der Bestände. [3]
Im Wirtschaftsprozess geht es zunächst mal einfach darum, Jahr für Jahr die Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die wir immer wieder (ver-)brauchen – unsere Nahrung, zum Beispiel, unsere Kleidung, Dinge für unser Heim, Energie zum Heizen, Pflege für Hilfsbedürftige und Kranke, usw.; auch Dinge, die wir nicht unbedingt brauchen, aber die das Leben erst lebenswert machen, wie Bücher, Fernsehen, Smartphones, Theater, Sport- und Musikveranstaltungen, Spiele, was immer. Das sind die privaten Konsumgüter der Verwendungsseite. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird unterstellt, dass sie, so wie produziert, verzehrt würden. Für Lebensmittel, Energie und Musikveranstaltungen trifft das mehr oder weniger zu, Dennoch ist das sehr vereinfacht. Meine Kleidungsstücke, z.B., dürften im Durchschnitt so um die 10 Jahre alt sein (ja, wirklich), Bücher, Geschirr, Möbel, Geräte noch um einiges älter. Aus Konsumgüterströmen können also wachsende Bestände werden, wenn sie nicht umgehend verbraucht werden, aber die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung berücksichtigt das nicht. Im Gegenzug geht es oft gerade um den allzu raschen „nicht-nachhaltigen“ Verzehr von Posten wie den „Zalando“-Schuhen und -Kleidern, die nach maximal einmaligem Tragen bei den Altkleidern landen, oder dem I-Phone, von dem jedes Jahr das jeweils neueste Modell beschafft werden muss – der Bestand nimmt nicht zu, aber das Verhalten ist trotzdem problematisch. Zum Konsum, in dem Fall „staatlichem Konsum“, zählen auch die Leistungen der Staatsangestellten, wie Krankenschwestern und Behördenangestellten; übrigens auch Erziehungsleistungen von Lehrern und Forschungsleistungen von Wissenschaftlern an staatlichen Universitäten – obwohl dadurch ja, zumindest im besten Fall, dauerhafte Bestände an Bildung und neuem Wissen geschaffen werden.[4]
Außerdem werden Investitionsgüter wie Fabriken, Maschinen, Geräte, auch Software und ähnliches, für Industrie und Gewerbe oder auch für staatliche Infrastruktur produziert – dabei wird angenommen, dass es sich um dauerhafte Güter handelt, die also zu Beständen angehäuft werden. Hier wird nun berücksichtigt, dass solche Güter im Zeitablauf abgenutzt werden und verfallen, indem für das Nettoinlandsprodukt Abschreibungen abgezogen werden. Die werden jedoch eher mechanistisch berechnet. So manche Maschine mag schon längst offiziell abgeschrieben sein, bevor sie endgültig den Geist aufgibt. Das gilt besonders auch für staatliche Infrastrukturinvestitionen, wo sich dann überraschend herausstellt, dass die Brücke, die jahrzehntelang ihre Abschreibung wacker überlebt hat, nun plötzlich doch marode ist und erneuert werden muss. Andere Geräte, vor allem auch Software, sind dagegen schon längst technisch überholt und erneuert, bevor sie offiziell abgeschrieben wären (schreibt jemand überhaupt Software ab?). Erst recht gilt das für Technik, die ökonomisch obsolet geworden ist, weil es neuere Verfahren gibt, die effizienter oder moderner oder umweltschonender oder sonstwie an die Gegenwartsbedingungen besser angepasst sind. Im Ganzen kann man wohl vermuten, dass die Abschreibungen eher unter- als überschätzt sind und den wahren Ersatzbedarf bei Investitionsgütern nur unzulänglich wiedergeben.
Was lernen wir daraus? Ob ein „Nullwachstum“ des BIP, wie Wachstumskritiker es fordern, wirklich die Masse an (überflüssigen) Beständen begrenzen würde, ob es gar die Wende zu einer nachhaltigeren Wirtschaft einläuten könnte, ist angesichts der Messmethoden und ihrer Möglichkeiten ziemlich ungewiss, zumal es sich, wie gesagt, gar nicht auf die Veränderung der Bestände bezieht. Ziemlich sicher würde es aber bedeuten, dass der Ersatz oder die Erneuerung von Investitionsgütern unterbleiben müsste. Solcher Ersatz und Erneuerung werden aber für die ständige Anpassung der Wirtschaft an veränderte gesellschaftliche Bedingungen (z.B. auch an Klimawandel) dringend benötigt. Das Vergehen würde das Entstehen übertreffen – auf die Dauer in der Wirtschaft ebenso tödlich wie in der Natur.
Wachstum ohne Ressourcenverzehr
Ein weiteres Missverständnis besteht in der Vermutung, Wachstum würde Ressourcen vernichten. Dazu kann man generell erstmal festhalten: die Erde ist ein beinahe geschlossenes System – es kommt übers Jahr wenig dazu (abgesehen von der Sonnenenergie) und es verschwindet auch ziemlich wenig in den Tiefen des Weltalls. Und Materie und Energie können verwandelt werden, aber sie lösen sich nicht einfach in Nichts auf.
Das gilt auch für die Produktionsprozesse – sie verwenden Rohstoffe und verwandeln sie mit Energie in etwas anderes, das uns Nutzen stiftet, und am Ende in – Abfall. Abfälle sind jedoch nicht einfach nur Abfälle, sondern auch wiederum Rohstoffquellen für neue Verwertungen. Besonders klar ist das bei Gold: jeder von uns, der einen Goldzahn oder einen goldenen Ring besitzt, hat darin mit hoher Wahrscheinlichkeit ein oder mehrere Moleküle, die schon die altägyptischen Pharaonen oder die Inka genutzt haben. Die Abfallwirtschaft vermag immer besser, aus unseren Hinterlassenschaften im Recycling neue Güter zu produzieren. Technisch geht ihre Tätigkeit, egal ob beim Recycling, bei Wärmeerzeugung durch Müllkraftwerke oder bei Einlagerung auf der Deponie, sowieso positiv in das BIP ein und erhöht damit – Überraschung – das gemessene Wachstum. Es ist gut vorstellbar, dass selbst Abfälle, die heute nicht weiter verwertet werden können, in Zukunft sehr wohl als Rohstoffreserve dienen können, z.B. „seltene Erden“, die man vielleicht in Zukunft unter Einsatz moderner Robotik aus dem digitalen Schrott zurückgewinnen kann. Selbst die strahlenden Rückstände aus Kernkraftwerken werden vielleicht doch nicht „Millionen Jahre“ weiter vor sich hin strahlen, sondern mit neuer Technik wiederum zur Energiegewinnung eingesetzt werden … Ansätze solcher Technik gibt es bereits.[5]


Vor allem aber werden ja nicht nur (materielle) Güter produziert, sondern auch (nicht-materielle) Dienstleistungen. Der Anteil der Dienstleistungen an der gesamten Produktion übersteigt den der Güter seit langem bei weitem. Aufgrund dessen ist der Zusammenhang von Wachstum und Ressourcenverzehr zumindest in westlichen Ländern wie Deutschland seit langem entkoppelt. Und diese Dienstleistungen können und werden weiterwachsen, insbesondere, wenn schwere mechanische Arbeit in der Güterproduktion zunehmend von Robotern übernommen wird. Nichts, schon gar nicht Ressourcenrestriktionen, hindert die Dienstleistungsgesellschaft dann daran, neben den bestehenden Dienstleistungen wie Krankenpflege, Transport, Bildung, Unterhaltung aller Arten, Gastwirtschaft, Körperpflege und Wellness-Angebote, Coaching, usw. immer neue Arten des Services, der Fürsorge und der Zuwendung von Mensch zu Mensch zu erfinden.[6] Und die Erzeugung von Kultur und Wissen ist ein Gebiet, wo die Wachstumsmöglichkeiten tatsächlich unendlich sind.
Also: Es gibt keine naturgegebene Zwangsläufigkeit, dass Wachstum begrenzt oder verhindert werden müsste. Das gemessene Wachstum kann sich in einer Kreislaufwirtschaft ohne Ressourcenverzehr vollziehen, und es umfasst auch Bereiche wie Zuwendung, Fantasie und Wissen, für die wir Grenzen weder brauchen noch wollen.
Win-Win-Wachstum
Das letzte Missverständnis schließlich ist, dass Wachstum und damit eine Verbesserung der Lebensbedingungen der einen nur durch eine Verschlechterung für andere möglich sei, dass der eine nur das mehr bekommen könne, was er dem anderen wegnimmt.
Die Entwicklung beispielsweise der letzten 50 – 100 Jahre zeigt das Gegenteil. Während es den Menschen in den westlichen Ländern im Verlaufe dieser Jahre immer besser ging, ihr Wohlstand und ihre Lebenschancen gewachsen sind, ist es den Menschen in den armen Ländern nicht etwa schlechter gegangen. Obwohl in diesem Zeitraum auch noch die Gesamtzahl der Menschen enorm zugenommen hat, ist die Armut der armen Länder zurückgegangen. Die Zahl der Hungernden, beispielsweise, ist immer noch viel zu hoch – und während der Pandemie wohl auch gestiegen – da bleibt noch vieles zu tun; aber zumindest ist der Anteil der Unterernährten an der Weltbevölkerung zurückgegangen, allein von 2001 – 2017 von 15% auf 9%. Und die Zahl der Menschen in extremer Armut ist weltweit absolut gesunken, beispielsweise zwischen 1990 und 2017 von etwa 1,8 Milliarden auf ca. 750 Millionen Menschen. Nur in Sub-Sahara-Afrika, dem Armenhaus der Welt, hat die Zahl der Menschen in extremer Armut absolut zugenommen, aber relativ ist sie selbst dort zurückgegangen.



Dieser Erfolg besteht in der Herausbildung einer breiten Mittelschicht gerade in den sich entwickelnden Ländern. Die Voraussetzungen dafür, dass das gelingt, sind die Öffnung der Landesgrenzen für Handel, die Abschaffung von Zoll- und anderen Barrieren, die Offenheit für marktwirtschaftliche Systeme. So entfaltet sich eine internationale Arbeitsteilung, auch Globalisierung genannt. Länder und Menschen spezialisieren sich auf das, was sie jeweils am besten vermögen. Es formen sich Lieferketten heraus, bei denen jedes Land, jedes Unternehmen, jeder Mensch im Produktionsprozess genau das beiträgt, worauf es/er spezialisiert ist. Im Idealfall kann in solchem internationalen Austausch jeder Mensch mit dem Potential, das er in sich trägt, bestmöglich sowohl zum allgemeinen Wachstum wie zu seinem persönlichen Wohlstand beitragen, und genau diese optimale Nutzung aller vorhandenen Potentiale ermöglicht es, die Produktionsmöglichkeiten nach außen zu verschieben, „den Kuchen zu vergrößern“.
Zwei Bedingungen müssen dafür allerdings erfüllt sein:
Menschen können ihr Potential nur dann voll nutzen, wenn dieses durch Bildung optimal gefördert worden ist. Das ist sicherlich bei weitem noch nicht der Fall, auch wenn der Anteil der Kinder, die nicht die Schule besuchen, kontinuierlich und stark zurückgegangen ist und inzwischen immerhin 88% aller Kinder auf der Welt die Primärstufe der Schule (die ersten 4 Jahre) abschließen und immer noch 72% aller Kinder die erste Sekundarstufe des Bildungssystems besuchen.
Die arbeitsteilige Zusammenarbeit muss so koordiniert werden, dass sie funktioniert. Ein marktwirtschaftliches System kann dabei seine Vorteile ausspielen, dass es keine zentralen umfangreichen Daten zur Steuerung dieses komplexen Produktionsprozesses erfordert. Die Prozesse steuern sich durch Preissignale (die anzeigen, wo etwas knapp wird oder wo etwas überreichlich vorhanden ist) selbst; es braucht aber einen Rahmen, um unerwünschte Entwicklungen zu vermeiden.

Aber geht die Einkommensschere nicht immer weiter auseinander, wo hier die Super-superreichen stehen und da die Habenichtse? Das durch Globalisierung erzielte Wachstum hat in der Tat einigen wenigen Personen einen bis dahin ungesehenen Reichtum beschert. Das hat damit zu tun, dass in der globalisierten Welt viel größere Mengen nicht nur an Gütern, sondern auch an Kapital bewegt werden. Und so wie ein Ozean ungleich größere Wellen hervorbringen kann als ein Dorfteich, so kann sich auch das Kapital, der Reichtum, unter Globalisierung viel stärker an einer Stelle bei einer Person zusammenballen. Ich bin die letzte, die nicht dafür wäre dagegen etwas zu tun. Maßnahmen wären z.B. Monopole und riesige weltweite Konzerne zu zerschlagen, Steuern zu fordern und auch wirklich einzutreiben und Schlupflöcher auszumerzen, Erbschaften rigide zu besteuern.

Dennoch: global haben sich die Einkommen aller Menschen angeglichen, vor allem zwischen Ländern, getrieben besonders von der Entwicklung in China und Indien, während sie innerhalb vieler Länder auseinandergegangen sind. In Deutschland war das speziell in den 1990er und 2000er Jahren der Fall, hat sich in den Folgejahren allerdings nicht weiter fortgesetzt. Gleichzeitig erleichtert Wachstum, Verteilungskonflikte zu entschärfen. Unter Wachstum kann man „ein größeres Stück vom Kuchen“ bekommen, ohne anderen zu schaden. Bleibt der Kuchen dagegen gleich oder wird er sogar kleiner, kann der eine sein Kuchenstück nur vergrößern, indem er anderen etwas wegnimmt. Auseinandersetzungen in stagnierenden oder schrumpfenden Ökonomien werden mit großer Heftigkeit und Bitterkeit geführt und entzweien Gesellschaften.

Aber gibt es nicht die Ausbeutung beispielsweise der Rohstoffe und der billigen Arbeitskräfte und der Kinder der armen Länder durch die reichen Länder? Ja, aber sie ist kein Argument gegen Globalisierung oder Wachstum, sondern nur gegen die Ausbeutung selbst, sie beweist vor allem dysfunktionale Strukturen in den entsprechenden armen Ländern, Strukturen, die ihrerseits Ursache und Folge der Armut und Unterentwicklung sind. An der Ausbeutung sind dabei immer die reichen Machteliten dieser Länder selbst maßgeblich beteiligt, sonst würde das so nicht laufen. Wichtig ist also, dass die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens, also Gesetze, Institutionen, Behörden überall richtig gesetzt sind, um Schutzbedürftiges effizient zu schützen. Durch Labels wie „Fair Trade“ versuchen Konsumenten, solche Bedingungen zum Positiven zu beeinflussen. Regierungen westlicher Länder können in Handelsabkommen soziale und Umwelt-Mindeststandards vereinbaren, die einzuhalten sind, damit Produkte und Dienstleistungen international gehandelt werden dürfen, oder sie machen die Unternehmen in ihrem jeweils eigenen Land dafür verantwortlich, für Mindeststandards bei der Produktion in den Herkunftsländern ihrer Waren zu sorgen („Lieferkettengesetz“).
Wie weit es allerdings möglich ist, dass reiche westliche Länder auf die Rahmenbedingungen armer Länder einwirken, ohne dabei in eine zwar wohlmeinende aber nichtsdestoweniger Bevormundung zu verfallen, ist nicht leicht zu entscheiden – manche könnten das sogar als „Neokolonialismus“ diffamieren. Und: es ist keine Lösung, sich über „regional“ (also in Deutschland oder Europa) erzeugte Produkte vermeintlich ein reines Gewissen zu erkaufen, denn das schließt die armen Länder und die Ärmsten der Armen aus dem Handel aus und nimmt ihnen die Möglichkeit, überhaupt ein Einkommen zu erzielen, selbst wenn es zunächst noch so klein ist, und sich Schritt für Schritt ihren eigenen Wohlstand aufzubauen. Das aber ist der Weg, den zunächst Japan und dann die „Vier kleinen Tiger“ (Südkorea, Singapur, Hongkong, Taiwan) und später China und weitere südostasiatische Staaten sehr erfolgreich genommen haben.
Meine Schlussfolgerung also: Wachstum bei den einen schadet nicht zwangsläufig den anderen; tatsächlich kann es das sogar eher begünstigen. Wachstum verschärft nicht die Ungleichheit, sondern entschärft sogar Verteilungskonflikte, denn nur wenn es Wachstum gibt, kann man einem geben, ohne jemand anderem etwas wegnehmen zu müssen. Wenn die Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind, gibt Wachstum allen Menschen neue Möglichkeiten.
Gesamtfazit
Wir brauchen Wachstum. Ja, es braucht Regeln und Rahmenbedingungen, die den Wirtschaftsprozess flankieren, um Missständen vorzubeugen oder sie zu korrigieren. Aber nicht, um Wachstum in der Wirtschaft abzuschaffen. Fehlt es, so beharrt das Alte, es steigen die Verteilungskonflikte und die Armen dieser Welt gehen der Chance verlustig, zu den Wohlhabenden aufschließen zu können. Letztlich siegt dann das Vergehen über das Entstehen. Wachstum bedeutet dagegen Entwicklungsmöglichkeiten für neues Leben und neues Blühen, wie bei meiner Pflanze.
Endnoten
[1] Eine weitere Unterscheidung betrifft die Rechnung zu jeweiligen versus konstanten Preisen. Im letzteren Fall wird um die Inflation bereinigt, um von „nominalen“ zu „realen“ Größen zu gelangen. Ich vernachlässige das im Folgenden und gehe immer von realen Größen aus. [2] Inländer im ökonomischen Kontext sind übrigens alle ständig im Inland lebenden Einwohner, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit. [3] Definition der Wachstumsrate: ; Anfangs- und Endjahr. [4] Das ist übrigens keine Bosheit oder Geringschätzung von Leistungen, sondern einfach der Tatsache geschuldet, dass solche staatlichen Leistungen nur schwer gemessen werden können, weil es keinen Markt und damit keine Preise, keinen irgendwie ermittelbaren Wert, dafür gibt. Diese Leistungen werden daher der Einfachheit halber durch die Gehälter der Angestellten wiedergegeben. [5] Genannt „Transmutation“, mit Energiegewinnung in reaktorbetriebenen Systemen (z.B. schnelle Brüter, Flüssigsalz-, Dual-Fluid-, Kugelhaufen-, Laufwellen-Reaktoren; neue Entwicklungen und Forschungsprojekte in Russland, China, Belgien und USA). Vgl. Quarks (WDR) 27.01.2021, ZEIT 41/2019, Der Standard 04.09.2021, Spektrum der Wissenschaft 20.07.2020. Voraussetzung für die Wiederverwendung von Atommüll ist ironischerweise, dass er nicht „zu gut“, zu unerreichbar entsorgt worden ist … [6] In die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – und damit in das gemessene Wachstum – gehen freilich bedauerlicherweise nur gehandelte und damit monetär bewertete Fürsorge- und Zuwendungsdienstleistungen ein, nicht die Care-Arbeit von Eltern für ihre Kinder, oder von Kindern für ihre alten Eltern, oder ehrenamtliche Tätigkeiten – das Problem ist in allen diesen Fällen die Messbarkeit. Aber auch und gerade für Fürsorge- und Zuwendungsdienstleistungen, die gegen Entgelt angeboten werden, gibt es sicher erhebliche Wachstumsmöglichkeiten.



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