Patentrecht auf dem Corona-Prüfstand
- Christiane Krieger-Boden

- 4. Mai 2021
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Jan. 2022
Es gibt gegenwärtig in der deutschen Medienöffentlichkeit heftige Diskussionen um die Impfungen gegen das Covid19-Virus: um zu wenige Bestellungen und noch geringere Liefermengen, um fehlende Produktionsstätten, um vielleicht weniger effiziente Wirkstoffe, um Impfrangfolgen und privilegierte Vordrängler, um Impfmanagement, um Impffolgen und -nebenwirkungen – und darüber, wer schuld am vermuteten oder tatsächlichen Impfdebakel ist, eine ebenso beliebte wie unfruchtbare Debatte, denn das ist verschüttete Milch. Vor allem aber diskutiert man dies alles auf der Ebene Deutschlands, oder allenfalls noch im Vergleich zu anderen westlichen Industriestaaten.
Über die Impfsituation in den armen Ländern Afrikas, Südostasiens oder Lateinamerikas wird dagegen kaum gesprochen, z.B. inwieweit die Impfstoffe, von denen wir uns angeblich zu wenige gesichert hätten (nämlich nur wenig mehr als wir voraussichtlich brauchen), in diesen armen Ländern erst recht fehlen. Immerhin hat eine globale Impfallianz, Gavi, zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und weiteren das Programm COVAX eingerichtet, um die Entwicklung und Herstellung von Corona-Impfstoffen zu beschleunigen und eine faire Verteilung auf der ganzen Welt zu gewährleisten. Länder mit einem höheren Einkommen finanzieren die Impfstoffdosen für 92 einkommensschwache Staaten mit. Die Europäische Union hat COVAX dafür 500 Millionen Euro und 2 Milliarden Impfdosen bis Ende 2021 zugesagt.[1] Im Vergleich zu den inländisch eingesetzten Mitteln ist das wenig. Dabei ist das Impfen in den armen Länder nicht nur ein humanitäres Gebot, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der reichen Länder, denn die Pandemie lässt sich dauerhaft nur eindämmen, wenn sie überall bekämpft wird – sonst kann sie jederzeit aus Mumbai, Conakry, São Paulo oder sonstwo reimportiert werden.
Nun ist realistischerweise kaum zu erwarten, dass die reichen Länder sofort zugunsten der armen Länder auf die Seren verzichten werden, die auch dort einstweilen zu knapp sind und dringend benötigt werden. Stattdessen muss alle Energie dafür aufgewendet werden, die Produktion enorm auszuweiten, so dass alle Länder die erforderlichen Impfstoffe bekommen, und das zu Preisen, die sie auch bezahlen können.
Wenn es um solche Produktionsausweitung geht, sind manche schnell damit bei der Hand, den Patentschutz durch Zwangslizenzen ausschalten zu wollen, um damit weiteren Betrieben zu ermöglichen, die Impfstoffe zu produzieren.[2]Ganz aktuell haben die USA eine Initiative gestartet, eine zeitweilige Aussetzung des Patentschutzes für Covid19-Impfstoffe international zu vereinbaren – die genauen Bedingungen dafür sind wohl noch unklar.[3] Mal abgesehen davon, dass die Produktion solcher komplexer Stoffe offenbar gar nicht so einfach aufzunehmen ist, spricht einiges gegen solches Vorgehen:
Es ist nicht legal. Die internationalen Regelungen zum länderübergreifenden Patentschutz sind in dem multilateralen TRIPS-Abkommen (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) von 1994 festgelegt, im Rahmen der WTO (World Trade Organisation). Nach diesem Regelwerk dürfen Staaten zwar in Notsituationen in begrenztem Umfang Zwangslizenzen erteilen, aber das deckt eine Verwendung für massenhafte Impfungen nicht ab.
Es zerstört Anreize für private Unternehmen, sich in der Forschung für solche dringend benötigten Medikamente oder allgemeiner überhaupt für Forschung & Entwicklung zu engagieren. Wie großartig und erfolgreich solches Engagement ist, hat ja gerade die Entwicklung der Corona-Impfstoffe gezeigt: Niemand hatte ernsthaft erwartet, dass so schnell und so viele verschiedene wirksame Impfstoffe bereitgestellt werden könnten. Mehrere der beteiligten Firmen haben versichert, sie wollten an diesen Impfstoffen nicht verdienen – ob das zutrifft, wird sich zeigen. In jedem Fall muss es möglich und lohnend sein, von der Arbeit an Forschung & Entwicklung zu leben, und die (hohen!) Risiken von Fehlschlägen zu tragen.
Spielregeln während des Spiels zu verändern, zeugt von Willkür. Es zerstört Vertrauen zu denjenigen, die solche Spielregeln aufstellen, und zwar nicht nur bei den direkt Negativbetroffenen.
Aber an dem gegenwärtigen Problem wird deutlich, dass sich am Patent- und Lizenzrecht durchaus einiges verändern muss.[4] Generell werden verschiedene Arten von Forschung und Entwicklung von der Grundlagenforschung bis zur angewandten F&E in verschiedenen Systemen durch verschiedene private und staatliche Akteure betrieben. Teils werden die erforderlichen Finanzierungen ex ante bereitgestellt, durch die entsprechende staatliche Forschungsförderung oder durch private Stiftungen, teils muss sich die Forschung im Nachhinein über den Verkauf ihrer Ergebnisse refinanzieren (vgl. Übersicht).

Dementsprechend variieren auch die Eigentumsrechte an der Forschung, von den restriktiven Patenten, Soft-Patenten, über die freie Nutzung von Software, bis zu Open-Source-Angeboten, bei denen auch die Grundlagen, Hintergründe und Details der Forschung offengelegt und ihre Weiterentwicklung ermöglicht wird (Wikis), und bis zu den wissenschaftlichen Publikationswegen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften mit Peer-Review-Verfahren.[5]
Allerdings gibt es keine klare Zuordnung zwischen der Art der Wissensproduktion und ihrer Verwertung über unterschiedliche Eigentumsrechte. Universitäten, beispielsweise, finanzieren sich nicht nur aus öffentlichen Mitteln, sondern auch über private Aufträge, und sie bemühen sich neben ihren wissenschaftlichen Publikationen auch um Patente auf ihre Forschungsergebnisse. Teilweise werden die Zahlen von Patentanmeldungen, die sich eine Forschungseinrichtung sichern kann, sogar als Beleg für ihre besondere Leistungsfähigkeit angesehen. Das ist dubios, weil öffentlich finanzierte Forschung dem Gemeinwohl dienen soll. Die Rechtfertigung für öffentliche Forschungsförderung leitet sich aus der Vermutung her, dass es eine Grundlagenforschung gibt, die zweckfrei und ungerichtet ist und gerade daher völlig neue Entdeckungen machen kann. Daraus folgt logisch, dass die Ergebnisse solcher Forschung der Gemeinschaft kostenfrei zur Verfügung gestellt werden müssten – sie hat ja bereits dafür bezahlt.
Im privaten Bereich erweist sich der traditionelle, im TRIPS-Abkommen vorgesehene 20-jährige Patentschutz (d.h. exklusive Vermarktungsrechte) für manche Branchen als zu undifferenziert und nicht zeitgemäß, weil der technische Fortschritt dort entweder langsamer oder im Gegenteil sogar viel schneller verläuft. So zählt bei Medikamenten ein Teil der Zeit mit, während derer vor der Marktzulassung noch verschiedene Stufen von Studien durchlaufen werden müssen; sogar eine Ausnahmeregelung, nach der die Patentlaufzeit für Medikamente um 5 Jahre verlängert werden kann, wird daher teilweise für noch nicht ausreichend gehalten. In der IT-Branche dagegen wird der Patentschutz vielfach vorzeitig unterlaufen, sei es durch unerlaubte Aneignung oder durch freiwillige open source-Angebote. Open source ist aber nicht nur Kapitulation vor einem nicht mehr durchsetzbaren Patent-Regime, sondern bietet auch ganz neue Möglichkeiten, durch engen und schnellen Austausch von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen die Forschung und Entwicklung selbst voranzutreiben. Gerade im IT-Bereich wird teilweise aber auch mit der Vortäuschung falscher Tatsachen gehandelt: Kostenlose Softwarenutzung ist nicht wirklich kostenlos, sondern der Nutzer „zahlt“ dafür, oft ohne es zu wissen, mit einer breiten Spur von Daten, die er dem Anbieter hinterlässt.
Aus all dem folgt für mich:
Das TRIPS-Abkommen ist zu eindimensional und nicht zeitgemäß für die aktuelle Wirklichkeit. TRIPS müsste verschiedene Möglichkeiten für unterschiedliche Formen von intellektuellem Eigentum vorsehen, mit unterschiedlicher Ausprägung der Rechte daran und mit unterschiedlichen Laufzeiten, die auch nach Branche und Produktart differenziert werden müssten.
Man muss Patentrechte beschränken, wenn sie durch staatliche Subventionen finanziert oder kofinanziert wurden; die Forschungsergebnisse müssen dann zumindest teilweise der Öffentlichkeit gehören. Tatsächlich wird von öffentlichen oder philanthropischen Geldgebern zunehmend gefordert, dass alle Ergebnisse solcher Forschung im Open Source zugänglich sein sollen (z.B. bei der Forschungsförderung aus Mitteln der EU). Durchgesetzt hat sich das aber noch nicht.
Die reichen Länder könnten Lizenzverträge zur Nutzung der Patente durch die armen Länder finanzieren helfen.
Die Unternehmen selbst könnten für Länder der Dritten Welt leicht und frühzeitig Generika-Produktionen zulassen – das schränkt die Verdienstmöglichkeiten der Patentinhaber kaum ein, weil die armen Länder ohnehin nicht die (finanzielle) Möglichkeit haben, die teuren patentgeschützten Originale zu kaufen. Solche Marktdifferenzierung oder Marktsegmentierung ist eigentlich generell eine gängige Marktstrategie von Unternehmen. Man muss dann nur Re-Importe in die reichen Industrieländer verhindern, um den Pharmaunternehmen in den reichen Ländern ausreichend Verdienstmöglichkeiten und damit Anreize zur Entwicklung solcher Medikamente zu geben.
Im Falle der Covid19-Epedemie haben private Unternehmen in unerwarteter Geschwindigkeit verschiedene Impfstoffe entwickelt; sie haben dafür hohe Investitionen auf sich genommen, die nun in der Folge wieder hereinkommen müssen; sie müssen also an ihren Erfindungen verdienen können. Wahr ist aber auch, dass sie bei ihrer Forschungsfinanzierung in einigem Maße mit öffentlichen Mitteln unterstützt wurden, nicht nur in den USA, sondern auch bei uns, und von daher gibt es auch eine besondere Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit; über den allgemeinen Grundsatz des „Eigentum verpflichtet“ hinaus.
Im Falle einer anderen Pandemie, nämlich HIV, haben die Pharmaunternehmen der reichen Industrieländer lange gezögert, den armen Ländern ihre effizienten Medikamente preiswert zur Verfügung zu stellen, nicht mal als lizenzierte Generika. Die Seuche tobte durch Afrika, vernichtete die aktive Generation, die Elterngeneration, und damit die sozialen Strukturen. Südafrika hat sich dann das Recht an der unlizenzierten Generika-Produktion einfach genommen. Es kam zu einem Rechtsstreit, der mit einer außergerichtlichen Einigung mit den Pharmaunternehmen endete.[6] In Zukunft wäre es wünschenswert, dass es geordnetere, international geregelte Verfahren im Umgang mit den Generika gibt, die sowohl die erforderlichen Forschungsanreize sichern als auch die Interessen der Ärmsten der Armen auf ein Leben in Gesundheit gewährleisten.
Endnoten
[1] Vgl. https://www.dw.com/de/faktencheck-corona-impfstoffe-verteilung-welt/a-55923381 [2] Vgl. https://www.dw.com/de/zwangslizenzen-f%C3%BCr-impfstoffe-pro-contra/a-56471937 [3] Vgl. https://www.dw.com/de/usa-f%C3%BCr-aussetzung-der-patente-f%C3%BCr-corona-impfstoffe/a-57441305 [4] Im Rahmen des von Dennis Snower initiierten „Global Economic Symposiums“ habe ich im Jahr 2009 eine illustre Expertenrunde zu diesem Thema betreut (siehe meinen Blog-Beitrag „New Knowledge Creation Regimes“ von 2010). [5] Leider haben sich die Verlage solcher Zeitschriften eine starke und fragwürdige Position gesichert: An die veröffentlichten Aufsätze kommt nur, wer für den Zugang bezahlt – und das, obwohl der Peer-Review-Prozess, also die eigentliche Leistung zur Qualitätssicherung der Publikationen, überwiegend ehrenamtlich aus der Wissenschaft heraus geleistet wird. Für den Zugang bezahlen vor allem die (staatsfinanzierten) Universitäts- und Fachbibliotheken, die ihren Nutzern diese Aufsätze dann kostenlos oder zu geringem Entgelt zur Verfügung stellen. Einige Verlage haben in letzter Zeit ihre Position auszunutzen versucht, indem sie ihre Preise drastisch erhöht und die damit erkauften Nutzungsbedingungen restringiert haben. Die Bibliotheken und mit ihnen die Wissenschaftler versuchen darauf zu reagieren und sich zu wehren, Ausgang noch ungewiss. [6] Vgl. https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/krankheiten/aids/pwiedietreatmentactioncampaign100.html; https://www.aerzteblatt.de/archiv/26964/Aids-Prozess-in-Suedafrika-David-gegen-Goliath



Kommentare