Abschaffung der Konjunktur?
- Christiane Krieger-Boden
- 29. Dez. 2017
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Jan. 2021
Die Idee einer Wirtschaftspolitik, insbesondere einer Geldpolitik, mit der man die lästigen konjunkturellen Schwankungen zwischen deflationärer Depression und inflationärer Überhitzung einfach abschaffen könnte, hat Tradition. Für diese konjunkturellen Schwankungen spielen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte eine erhebliche Rolle: Im Boom sind Konsumenten und Investoren bestrebt, alle geplanten Käufe so schnell wie möglich umzusetzen, weil sie damit rechnen müssen, künftig mehr dafür bezahlen zu müssen (und weil sie auch die Mittel dafür haben). Dieses Verhalten heizt aber den Boom weiter an. Umgedreht werden sie sich in der Rezession zurückhalten, weil sie auf sinkende Preise setzen können (und weil es ihnen auch an Finanzmitteln fehlt). Und natürlich führt genau das zu einer weiteren Vertiefung der Rezession. Staat und Zentralbank sollten daher dagegenhalten: der Staat durch antizyklische Ausgabenpolitik und die Zentralbank durch Bereitstellung der richtigen Geldmenge. Aber das hat seine eigene Problematik: Schließlich ist es auch eine seit langem gehegte Vermutung, dass gerade der staatliche Kampf gegen die Überhitzung durch überschießende Reaktionen bereits wieder den Keim für die Depression legt – und umgedreht.[1]
Die Idee(n)
Nun hat mein Sohn den „Markt-Monetarismus“ entdeckt und möchte ihn mir ans Herz legen (ehrlich gesagt, ich habe wenig Ahnung von Geldpolitik und habe mich deshalb erstmal selbst schlau gemacht). Es geht um eine spezielle Form der „regelbasierten“ Geldpolitik zur Bereitstellung der richtigen Geldmenge, die die Zentralbank strikt verfolgen soll. Die generelle Grundidee ist, dass eine stetige, regelbasierte und damit vorhersehbare Geldpolitik auch die Erwartungen der Wirtschaftsakteure verstetigt. Wenn diese keinen Anlass mehr haben, geldmengenbedingte Preisanstiege oder -senkungen zu erwarten, haben sie auch keinen Grund mehr, ihre Käufe im Boom zu beschleunigen oder in der Rezession zu verzögern – und voila! schon ist die Konjunktur weg. Wichtig ist allerdings, dass die Verpflichtung der Zentralbank, sich unter allen Umständen an solche Regel zu halten, uneingeschränkt glaubwürdig ist und dass die Wirtschaftsakteure rationale Erwartungen hegen und allumfassend informiert sind. Wie wir noch sehen werden, liegt gerade in diesen Annahmen eine Crux des Ganzen.
Verschiedene Arten von Regeln werden in der Wirtschaftswissenschaft diskutiert. Die auch Nicht-Ökonomen geläufigste ist der Goldstandard. Dabei besteht die Währung entweder aus Goldmünzen oder aus Banknoten, die einen Anspruch auf Gold repräsentieren und in Gold eingetauscht werden können. Die Geldmenge kann dann nur ausgeweitet werden, wenn die Zentralbank ihre Goldvorräte erhöht. Der Wert dieses Goldes kann allerdings sehr stark schwanken; er hängt von der weltweiten Goldnachfrage ebenso ab wie vom Goldangebot, das beispielsweise durch Goldgewinnung oder durch Verkäufe von gehortetem Gold ansteigen kann – Einflussfaktoren, die kaum gesteuert werden können.
Eine weitere Regel geht auf Milton Friedman zurück. Danach soll die Geldmenge mit konstanter Rate zunehmen, entsprechend dem langfristigen Wachstum des realen Inlandsprodukts, oder, nach einer anderen Variante, entsprechend dem Wachstum des Produktionspotenzials. Auch das soll der Verstetigung dienen und die Zentralbank entmachten.
Besonders häufig angewandt worden ist die Taylor-Regel. Sie orientiert sich sowohl an einem Inflationsziel (oft: ~2%) als auch an der Kapazitätsauslastung der Wirtschaft. Weicht die erwartete Inflation vom Ziel ab, und / oder ist die Wirtschaft unterausgelastet oder überhitzt, so bestimmt die Taylor-Regel in einer mathematischen Formel den zu wählenden Wert für den Leitzins.[2] In vereinfachter Form strebt die Zentralbank nur ein Inflationsziel (von etwa 2%) an.
Eine eher ausgefallene Idee ist der Markt-Monetarismus, oder Nominaleinkommens-Regel von Scott Sumner und anderen. Danach soll die Zentralbank nicht auf Inflation, Kapazitätsauslastung oder reales Wachstum schauen, sondern stur ein konstantes Wachstum des nominalen Bruttoinlandsproduktes (also einschließlich Inflation) ansteuern, und dafür ihre geldpolitischen Instrumente einsetzen. Sie kann dazu eine neue Form von Termin-Finanzpapieren auf den Markt bringen: sie würde diese Finanzpapiere stets und in beliebiger Menge zu einem Preis kaufen und verkaufen, der sich genau entlang ihrem Wachstumsziel für das nominale BIP entwickelt. Wenn Anleger etwa erwarten, dass das nominale BIP langsamer wächst als dem Ziel der Zentralbank entspricht, dann würden sie dieses Finanzpapier stark nachfragen, dadurch würde auch das Geldangebot ausgeweitet, damit die Wirtschaft (oder die Inflation? Oder Deflation im Falle eines besonders dynamischen Wachstums?) angetrieben. Nähert sich das nominale BIP auf diese Weise dem Ziel an, würde das Interesse an dem Finanzpapier sinken und damit auch das Geldangebot langsamer oder gar nicht mehr steigen. Entsprechend umgekehrt wäre der Verlauf, wenn die Anleger die Entwicklung schneller als nach dem Wachstumsziel der Zentralbank einschätzen. Die Zentralbank bräuchte nichts mehr zu tun, außer ein solches Ziel festzulegen und ein solches Finanzpapier zu kaufen und zu verkaufen; sie könnte sich quasi selbst abschaffen. Das entspricht einem alten Traum von Monetaristen und radikalen Liberalen …
Die Bewertung
Wie eigentlich immer in der Wirtschaftswissenschaft, werden Pro und Kontra der regelbasierten Geldpolitik heftig kontrovers diskutiert. Seit der Wirtschaftskrise 2007/ 2008 sind die meisten Zentralbanken von einer regelgebundenen (meist: Taylor-Regel) zu einer diskretionären, also fallweisen, pragmatischen Politik des „quantitative easing“ oder des „whatever-it-takes“ übergegangen (sprich: massive Anleiheankäufe zur Ausweitung des Geldangebots), nicht ohne erhebliche Kritik. Doch die Bereitschaft, sich wieder auf den Pfad der Tugend, will sagen einer stärker regelorientierten Geldpolitik, zu begeben, steigt. Dagegen ist im Sinne besserer Vorhersehbarkeit sicher nichts einzuwenden.
Allerdings glaube ich nicht daran, dass sich damit die Konjunktur ausrotten lässt. Die Ökonomie lässt sich nicht steuern wie ein Uhrwerk.
Letztlich kann die Geldpolitik immer nur diskretionär sein, selbst wenn sie sich an strikten Regeln orientiert. Allein die Diagnose, wann der Moment gekommen sei, die Geldmenge auszuweiten oder einzuschränken, beinhaltet ein erhebliches diskretionäres Element, denn wirklich unangreifbare, verlässliche und auch noch simultane Messungen gibt es in der Ökonomie nicht. Wichtige Eckwerte der Volkswirtschaft wie Bruttoinlandsprodukt, Preisniveau, Zinsniveau, Kapazitätsauslastung usw. und deren Veränderung stehen ja nicht einfach fest, wie Fieber bei einem Menschen. Sie müssen aus einer Vielzahl von zu erhebenden Einzelzahlen aggregiert werden, das braucht Zeit, und beinahe jeder Schritt dieser Berechnungen ist dubios. Das sieht man auch an den mehrfachen und nicht selten dramatischen Revisionen, die im Nachhinein vorgenommen werden. Zentralbankentscheidungen, die in Bezug auf die zum Entscheidungszeitpunkt vorgelegenen „real-time“ Daten regelgerecht waren, können im Vergleich zu den revidierten Daten von dem „eigentlich richtigen“ Pfad abweichen, unter Umständen sogar erheblich.
Die Zentralbanken gelten, weithin unangefochten, nicht nur als Hüter des Geldes und seines Wertes, sondern auch als „lender of last resort“, d.h. als Zuflucht, als letzte Instanz, die in extremen volkswirtschaftlichen Notfällen für Schuldner einsteht, wenn das sonst niemand mehr kann – die Zentralbank kann immer, weil sie die Notenpresse anschmeißen kann. Aber auch damit verlässt sie den regelbasierten Pfad.
Die Geldmenge und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes lassen sich nicht direkt, sondern nur indirekt von der Zentralbank beeinflussen. Geldschöpfung und Geldvernichtung sind nämlich kein Privileg der Zentralbank, das können auch Private: [3] Jeder Wirtschaftsakteur, der einem anderen einen Kredit einräumt – ohne aber auf seinen Anspruch auf das verliehene Geld zu verzichten –, schöpft Geld. Jeder Sparer, der seine 500 € in seiner Kaffeedose oder seine 500.000 € im eigenen Tresor hortet und damit dem Wirtschaftskreislauf entzieht, vernichtet Geld. Die Zentralbank kann mit ihrer Politik lediglich mittelbar beeinflussen, wie lohnend Kreditvergabe und Horten sind. Die indirekte Wirkungsweise bedeutet auch, dass jede Kursänderung der Zentralbank Zeit braucht, um wirksam zu werden, und eine Entwicklung, die einmal in Gang gekommen ist, sich nicht sofort wieder stoppen lässt.
Die Zentralbank kann die Geldmenge nur für den gesamten Währungsraum beeinflussen; auf unterschiedliche Konjunkturentwicklungen und geldpolitische Bedürfnisse in verschiedenen Regionen oder in verschiedenen Branchen kann sie nicht eingehen. Im Euro-Raum kann man dieses Problem studieren: unterschiedliche Länder bräuchten eigentlich unterschiedliche Geldpolitiken, gerade auch gemessen an bestimmten Regelvorgaben; die ist aber nicht möglich. Ebenso kann der Großteil der Wirtschaft noch darniederliegen, während sich an Aktien- und Immobilienmärkten bereits Spekulationsblasen bilden (mit Gefährdungspotential für die gesamte Volkswirtschaft), was ebenfalls Differenzierungen erfordern würde, die nicht möglich sind – die Konjunktur bleibt und erfordert weitere Instrumente außerhalb der Geldpolitik.
Die Wirtschaftsakteure haben nicht immer rationale Erwartungen, sie sind nicht umfassend informiert und die Konjunktur wird nicht nur von den Erwartungen zur Geldmengen- und Preisentwicklung getrieben. Konsumenten kaufen nicht, weil sie Preisanstiege befürchten, sondern weil die Freundin ebenfalls gerade ein Desigual-Kleid erstanden hat oder weil man nun mal unbedingt das allerneueste iPhone besitzen muss, um im Freundeskreis bestehen zu können. Investoren investieren oft nur deshalb, weil sie dazu neigen, die Marktchancen ihrer neuen Geschäftsidee systematisch zu überschätzen. Verträge, wie z.B. Tarifverträge, die einen Preis für einen längeren Zeitraum (z.B. 1 Jahr) fixieren, können zu zeitweiligen Über- oder Unterschätzungen des „wahren“ Preises führen, mit Einfluss auf das Kaufverhalten. Einflüsse von außerhalb des Wirtschaftsgeschehens, ob Naturereignisse oder ausländische Entwicklungen, können ebenfalls Konjunkturzyklen auslösen.
Die Zentralbank kann keine glaubwürdige Regelverpflichtung abgeben, selbst wenn sie nicht direkt von Regierung, Parlament, Wählerschaft abhängig ist. Wenn beispielsweise schwere Arbeitslosigkeit droht, mit Folgewirkungen womöglich für das Gesellschaftssystem und die Demokratie, dann kann keine Zentralbank der Welt eine Politik des knappen Geldes fortführen. Oder wenn die Konjunktur, die Inflation oder was immer das angestrebte Ziel ist, trotz massiver Geldmengenexpansion einfach nicht anspringen will (wir hatten sowas gerade weltweit, mit Null- oder Negativzinsen, man spricht von einer Liquiditätsfalle), dann kann die Zentralbank dennoch irgendwann nicht einfach weitermachen, weil keiner die Folgewirkungen abschätzen und die Verantwortung dafür übernehmen kann. Und selbst wenn man in der Zentralbank selbst zur strikten Regeltreue fest entschlossen ist, werden ihr die anderen Wirtschaftsakteure das nicht abnehmen. Spekulationen auf Anpassung des Zentralbank-Kurses könnten Ausmaße annehmen, die diese schließlich auf den Kurs zwingen.
Alles in allem erinnert mich die Empfehlung, strikt regelgebunden immer weiter draufzulegen bis ein vorgegebenes Regelziel erreicht ist, an eine Strategie beim Roulette-Spiel, von der gern kolportiert wird, dass sie „zwangsläufig erfolgreich“ sein müsse: Verdoppele nach jedem Verlust Deinen Einsatz, bis Du gewonnen hast.
Endnoten: [1] Übrigens liegt hier ein entscheidender Unterschied im Streit zwischen Hayek und Keynes: Hayek und seine Anhänger führen Konjunkturschwankungen auf zu üppige, von Notenpressen finanzierte Ausgaben der Regierungen zurück, die zur Überhitzung führen; Keynes und die Keynesianer sehen dagegen das Hauptproblem in einer Austeritätspolitik der Regierungen in der Rezession, wenn wegen gesunkener Einnahmen die Staatsausgaben zurückgefahren werden. Klingt nach Henne-Ei-Streit, hat aber erhebliche Auswirkungen auf die politischen Empfehlungen der beiden „Schulen“ zur Überwindung von konjunkturellen Schwankungen – bis heute. [2] Der Leitzins ist eines der geldpolitischen Instrumente der Zentralbank; er legt fest, mit welchem Zinssatz sich die Geschäftsbanken bei der Zentralbank refinanzieren können und beeinflusst damit indirekt die Geldmenge. [3] Man kann auch von Beschleunigung und Verlangsamung der Umlaufgeschwindigkeit sprechen – das ist nur eine Definitionsfrage. Letztlich muss immer das Produkt aus Geldmenge x Umlaufgeschwindigkeit der Nachfrage entsprechen.

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